Teil 1 Weckanruf

Kapitel Eins

1

»Sind Sie zu einem Urteil gekommen?« fragte Richter Alfred Neff die acht Männer und vier Frauen, die auf der Geschworenenbank saßen.

Ein massiger Mann mit breiter Brust Mitte sechzig stand schwerfällig auf. Betsy Tanenbaum warf einen Blick auf die Karteikarte, auf der sie sich bei der Auswahl der Geschworenen vor zwei Wochen Notizen gemacht hatte. Es war Walter Korn, ein pensionierter Schweißer. Walter war der Sprecher der Geschworenen, und Betsy war nicht ganz wohl bei diesem Gedanken. Sie hatte ihn auch nur deshalb als Geschworenen akzeptiert, weil ihr die Kandidaten ausgegangen waren.

Der Gerichtsdiener holte den Zettel mit dem Urteilsspruch von Korn und gab ihn dem Richter. Betsys Augen folgten dem zusammengefalteten weißen Papier. Als der Richter das Blatt auseinanderfaltete und es still für sich las, suchte sie in seinem Gesicht nach einer verräterischen Regung, aber es gab keine.

Betsy warf einen verstohlenen Blick auf Andrea Hammermill, die plumpe, matronenhafte Frau, die neben ihr saß. Andrea starrte stur geradeaus, genauso ergeben und niedergeschlagen wie sie während des gesamten Prozesses, in dem man sie des Mordes an ihrem Ehemann angeklagt hatte, gewesen war. Das einzige Mal, dass Andrea eine Gefühlsregung gezeigt hatte, war bei ihrer Aussage, in der sie erklärte, warum sie Sydney Hammermill erschossen hatte. Als sie den Geschworenen beschrieb, wie sie immer und immer wieder abgedrückt hatte, bis ihr an dem dumpfen Klicken bewusst geworden war, dass sich keine Kugel mehr in der Waffe befand, hatten ihre Hände gezittert, ihr Körper sich zusammengekrampft, und sie hatte herzerweichend geschluchzt.

»Die Angeklagte möge sich bitte erheben«, verkündete Richter Neff.

Andrea stand unsicher auf, Betsy neben ihr, die Augen nach vorne gerichtet.

»Wir, die ordnungsgemäß ernannten und vereidigten Geschworenen, erklären die Angeklagte, Andrea Marie Hammermill, für nicht schuldig...«

Den Rest des Urteilsspruchs konnte Betsy durch den Lärm im Gerichtssaal nicht verstehen. Andrea brach auf ihrem Stuhl zusammen und schlug die Hände vors Gesicht.

»Es ist gut«, sagte Betsy, »es ist ja alles gut.« Sie fühlte, wie ihr selbst die Tränen übers Gesicht liefen, als sie den Arm schützend um Andreas Schultern legte. Jemand tippte sie an. Sie schaute auf. Randy Highsmith, der Staatsanwalt, stand neben ihr und hielt ihr ein Glas Wasser hin.

»Ich denke, das kann sie jetzt gebrauchen«, sagte er.

Betsy nahm das Glas und gab es ihrer Klientin. Highsmith wartete einen Moment, bis Andrea ihre Fassung wiedergefunden hatte.

»Mrs. Hammermill«, hob er an, »ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Sie angeklagt habe, weil Sie das Gesetz in die eigene Hand genommen haben. Aber ich möchte Ihnen auch sagen, dass Ihr Mann kein Recht hatte, Sie so zu behandeln, wie er es getan hat. Wenn Sie zu mir gekommen wären, anstatt ihn zu erschießen, hätte ich alles getan, ihn hinter Gitter zu bringen. Ich hoffe, Sie können das alles vergessen und ein neues Leben anfangen. Sie scheinen ein guter Mensch zu sein.«

Betsy wollte dem Staatsanwalt für seine anteilnehmenden Worte danken, doch sie war zu aufgewühlt, um zu sprechen. Als Andreas Freunde und die, die sie unterstützt hatten, sich um sie versammelten, drängte sich Betsy aus der Menge, um endlich wieder tief durchatmen zu können. Über die Menschen hinweg konnte sie Highsmith allein über seinen Tisch gebeugt stehen sehen, wo er seine Gesetzbücher und Akten zusammensuchte. Als der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt in Richtung Tür ging, bemerkte er Betsy am Rande der Menschentraube und nickte ihr zu.

2

Den Rücken durchgebogen, die glänzenden Muskeln angespannt und den Kopf zurückgelegt, sah Martin Darius aus wie ein Wolf, der seine Beute anheult. Die Blondine, die unter ihm lag, klammerte ihre Beine fester um seine Hüften. Darius erzitterte und schloss die Augen. Die Frau keuchte vor Anstrengung. Darius' Gesicht verzerrte sich, dann brach er über ihr zusammen. Sein Kopf fiel auf ihre Brust. Er hörte den Herzschlag der Blondine und roch Schweiß, der sich mit einer Spur von Parfüm vermischte. Die Frau legte den Arm über ihr Gesicht. Darius ließ seine Hand nachlässig an ihrem Bein entlang gleiten und blickte über den flachen Bauch der Frau zu der billigen Digitaluhr auf dem Tisch des Motelzimmers. Es war 14.00 Uhr. Darius setzte sich langsam auf und schwang seine Beine über den Rand des Bettes auf den Boden. Die Frau bemerkte die Bewegung und sah dann zu, wie Darius den Raum durchquerte.

»Ich wünschte, du müsstest nicht weg!« sagte sie, ohne dabei ihre Enttäuschung verbergen zu können.

Darius nahm seine Kleider von der niedrigen Kommode und tappte in Richtung Bad.

»Ich habe um drei einen Termin«, antwortete er, ohne sich umzusehen.

Darius wusch den Schweißfilm ab, der sich während des Beischlafs auf seinem Körper gebildet hatte, dann nibbelte er sich in der Enge des Motelbadezimmers mit dem Handtuch ab. Der Dampf der Dusche hatte den Spiegel beschlagen lassen. Er wischte das Glas frei und sah in sein hageres Gesicht mit den tiefliegenden blauen Augen. Sein kurzgetrimmter Vollbart umrahmte einen teuflischen Mund, der so betörend, aber auch erschreckend wirken konnte. Darius nahm einen Reisefön und trocknete sich die Haare. Dann kämmte er sein glattes schwarzes Haar und den Bart. Als er die Tür des Badezimmers öffnete, lag die Blondine immer noch auf dem Bett. Einige Male schon hatte sie versucht, ihn, nachdem er geduscht und angezogen war, wieder ins Bett zu locken. Sie bildete sich wohl ein, mit Hilfe ihres Körpers Kontrolle über ihn erlangen zu können, und sie war nicht bereit, diese Versuche aufzugeben, obwohl sie keinen Erfolg damit hatte.

»Ich habe beschlossen, dass wir uns nicht mehr treffen werden«, erklärte Darius beiläufig, als er sein weißes Seidenhemd zuknöpfte.

Die Blondine richtete sich im Bett auf; ihr ansonsten selbstsicheres Puppengesicht hatte plötzlich einen entsetzten Ausdruck. Sie war es nicht gewohnt, aufs Abstellgleis geschoben zu werden. Darius drehte sich etwas zur Seite, damit sie sein Lächeln nicht sehen konnte.

»Warum?« brachte sie hervor, als er in seine anthrazitgraue Anzughose stieg. Darius wandte sich zu ihr um, damit er sich an ihrem entsetzten Gesichtsausdruck erfreuen konnte.

»Zu deiner Beruhigung, du bist schön und gut im Bett«, sagte er, während er seine Krawatte band, »aber du langweilst mich.«

Die Blondine starrte ihn einen Moment lang an, dann wurde ihr Gesicht rot vor Zorn.

»Du Scheißkerl!«

Darius lachte und nahm seine Anzugjacke.

»Das kannst du nicht machen!« fuhr sie fort, wobei ihre Wut offenbar schnell verflog.

»Es ist mir völlig ernst. Es ist vorbei. Eine Zeitlang war es ganz nett, aber jetzt geh' ich meiner Wege.«

»Und du glaubst, du kannst mich benutzen und dann wegwerfen wie eine Zigarettenkippe?« entgegnete sie mit wiederaufflammender Wut. »Ich werde es deiner Frau sagen, du Hurensohn. Ich rufe sie jetzt sofort an.«

Darius' Lächeln verschwand. Sein Gesichtsausdruck trieb die Blondine an das Kopfteil des Bettes. Er kam langsam um das Bett herum, bis er direkt über ihr stand. Sie wich zurück und hob ihre Arme. Darius beobachtete sie einen Moment, so, wie ein Biologe einen Organismus unter einem Mikroskop beobachten würde. Dann griff er ihr Handgelenk und drehte ihren Arm um, bis sie sich nach vorne krümmte und mit der Stirn auf dem zerknüllten Bettlaken lag.

Darius bewunderte die Konturen ihres Körpers von ihrem Gesäß hinauf zu dem schmalen Hals, als sie so, gebeugt vor Schmerzen, vor ihm kniete. Seine freie Hand glitt über ihren Rücken, dann verstärkte er den Griff um ihr Handgelenk, um ihren Körper erbeben zu lassen. Es gefiel ihm, ihre Brüste heftig zittern zu sehen, als er so brutal ihre Aufmerksamkeit erzwang.

»Lass mich eine Sache klarstellen«, erklärte Darius in einem Ton, als hätte er ein widerspenstiges Kind vor sich. »Du wirst niemals meine Frau anrufen oder mich! Niemals! Verstanden?«

»Ja«, keuchte die Blondine, als er ihren Arm verdrehte und ihn zur Schulter hochdrückte.

»Sag mir, was du nie tun wirst!« befahl er ruhig, lockerte seinen Griff für einen Moment und führ mit seiner freien Hand an den Rundungen ihrer Gesäßbacken entlang.

»Ich werde nicht anrufen, Martin. Ich schwöre«, schluchzte sie.

»Warum wirst du meine Frau nicht anrufen oder mir auf die Nerven gehen?« fragte Darius und verstärkte seinen Griff um ihr Handgelenk erneut.

Die Blondine schnappte nach Luft und wand sich unter Schmerzen. Darius unterdrückte ein Kichern, dann ließ er etwas locker, damit sie antworten konnte.

»Ich werde nicht anrufen«, wiederholte sie unter Schluchzen.

»Aber du hast nicht gesagt, warum nicht«, ermahnte Darius sie jetzt in ganz normalem Tonfall.

»Weil du es mir verboten hast. Ich mache, was du willst. Bitte, Martin, tu mir nicht mehr weh!«

Darius ließ sie frei, und die Frau brach, erbärmlich schluchzend, zusammen.

»Das ist eine gute Antwort. Besser wäre es gewesen, hättest du gesagt, du tust nichts, was mich ärgert, denn ich kann dir Schlimmeres antun, als ich es bis jetzt getan habe. Sehr viel Schlimmeres.«

Darius kniete sich vor ihr hin und holte sein Feuerzeug hervor. Es war aus massivem Gold mit einer Widmung von seiner Frau. Die helle, gelbe Flamme flackerte vor den entsetzten Augen der Blondine. Darius hielt es nahe genug, damit sie die Hitze spüren konnte.

»Sehr viel Schlimmeres«, wiederholte er. Dann machte er das Feuerzeug aus und stand auf. Die Blondine drehte sich um, das weiße Laken um ihre Hüften geschlungen, so dass die schlanken Beine und der wohlgeformte Rücken bloßlagen. Bei jedem Schluchzen zitterten ihre Schultern. Martin Darius beobachtete sie im Spiegel, während er seine weinrote Krawatte richtete. Er fragte sich, ob er ihr einreden könnte, dies alles wäre nur ein Spaß gewesen, um sie dann dazu zu bringen, sich ihm noch einmal hinzugeben. Der Gedanke ließ ihn lächeln. Einen Moment lang spielte er mit der Vorstellung, dass diese Frau vor ihm kniete, es ihm mit dem Mund besorge, davon überzeugt, dass er sie zurückhaben wolle. Darius war sich sicher, dass er es schaffen würde, aber da war der Termin, den er wahrnehmen musste.

»Können wir nicht darüber reden, Martin, bitte?« bettelte die Frau. Sie richtete sich im Bett auf, drehte sich um, und ihre kleinen, weichen Brüste lagen aufreizend offen, doch Darius hatte die Tür schon hinter sich geschlossen.

Der Himmel draußen sah unheilverkündend aus. Dicke, schwarze Wolken zogen von der Küste her auf. Darius schloss die Tür seines nachtschwarzen Ferrari auf und stellte die Alarmanlage ab. Schon bald würde er etwas tun, was sehr viel schmerzhafter für die Frau sein würde. Etwas ganz Besonderes, das es ihr unmöglich machen würde, ihn zu vergessen. Darius lächelte bei dem Gedanken daran und fuhr dann weg, ohne auch nur zu bemerken, dass ihn jemand, der am anderen Ende des Parkplatzes stand, fotografierte.

Martin Darius raste über die Marquam Bridge in Richtung der Innenstadt von Portland. Der starke Regen hielt die Ausflugsboote vom Willamette River fern, nur ein alter Tanker kämpfte sich durch den Sturm auf den Hafen von Swan Island zu. Jenseits des Flusses erhob sich ein architektonisches Gemisch von zweckbestimmten, grauen, futuristisch erscheinenden Gebäuden, unterbrochen von freitragenden Übergängen. Michael Graves' eigenwilliges, postmodernes Portland Building, der rosafarbene Wolkenkratzer der US-Bank und dreigeschossige historische Gebäude, die aus dem 18. Jahrhundert stammten. Darius hatte ein Vermögen damit gemacht, seinen Teil zur Skyline von Portland beizutragen sowie Teile des alten Stadtbildes wieder aufzubauen.

Als Darius die Fahrspur wechselte, begann gerade der Reporter in den Fünf-Uhr-Nachrichten mit der wichtigsten Meldung des Tages.

»Hier spricht Larry Prescott. Ich befinde mich im Gerichtsgebäude von Multnomah und habe Betsy Tanenbaum, die Verteidigerin von Andrea Hammermill, am Mikrofon. Ihre Klientin ist gerade vom Mord an ihrem Ehemann, dem Stadtverordneten Sidney Hammermill, freigesprochen worden.

Betsy, warum haben die Geschworenen Ihrer Meinung nach auf nicht schuldig plädiert?«

»Ich glaube, es war eine klare Sache, nachdem die Geschworenen einmal begriffen hatten, welche Auswirkungen Schläge auf die Psyche einer Frau haben können. Vor allem, wenn sie so oft geschlagen werden wie Andrea Hammermill.«

»Sie haben diesem Prozess von Beginn an sehr kritisch gegenübergestanden. Glauben Sie, dass er anders verlaufen wäre, wenn Mr. Hammermill nicht einer der Kandidaten für den Bürgermeisterposten gewesen wäre?«

»Die Tatsache, dass Sidney Hammermill wohlhabend und im öffentlichen Leben von Oregon sehr aktiv war, hat möglicherweise die Anklagevertreter beeinflusst.«

»Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn der Bezirksstaatsanwalt Alan Page einen weiblichen Vertreter mit diesem Fall beauftragt hätte?«

»Durchaus möglich. Eine Frau wäre in der Lage gewesen, die Beweise objektiver zu betrachten als ein Mann und hätte die Anklage unter Umständen sofort fallengelassen.«

»Betsy, dies ist ihr zweiter Freispruch in einem Prozess, in dem sie eine Frau verteidigen, die geschlagen wurde und den Mann daraufhin umgebracht hat. Vor einigen Monaten haben Sie gegen eine Anti-Abtreibungs-Vereinigung eine Million Dollar Schadenersatz durchgesetzt, und das Time Magazin bezeichnet Sie als eine von Amerikas vielversprechendsten Strafverteidigerinnen. Wie werden Sie mit ihrem neuen Ruhm fertig?«

Einen Moment lang herrschte Stille im Radio. Als Betsy antwortete, lag Verärgerung in ihrer Stimme.

»Sie können sicher sein, Mr. Prescott, ich habe genug mit meiner Kanzlei und meiner Tochter zu tun, um mir über etwas anderes den Kopf zu zerbrechen als über den nächsten Fall und das heutige Abendessen.«

Das Autotelefon klingelte. Darius stellte das Radio leiser. Der Ferrari heulte auf, als er auf die linke Spur, die nicht so befahren war, wechselte. Beim dritten Klingeln nahm er den Hörer ab.

»Mr. Darius?«

»Wer spricht da?«

Nur ein paar Leute kannten seine Autotelefonnummer, und diese Stimme kannte er nicht.

»Meinen Namen brauchen Sie nicht zu wissen.«

»Ich muss ja auch nicht mit Ihnen sprechen.«

»Vielleicht nicht, aber ich denke, es wird Sie interessieren, was ich zu sagen habe.«

»Ich weiß nicht, wie Sie an diese Nummer gekommen sind, aber meine Geduld ist gleich zu Ende. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, oder ich lege auf!«

»Gut. Sie sind Geschäftsmann; ich sollte Ihre Zeit nicht verschwenden. Doch wenn Sie jetzt auflegen, garantiere ich Ihnen, dass ich nicht AUF EWIG UNVERGESSEN sein werde.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Jetzt sind Sie interessiert, wie?«

Darius atmete tief durch. Plötzlich hatten sich Schweißperlen auf seiner Stirn und der Oberlippe gebildet.

»Kennen Sie Captain Ned's? Das ist ein Fischrestaurant am Marine Drive. Die Bar dort ist sehr dunkel. Fahren Sie jetzt gleich dorthin, dann können wir uns unterhalten!«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Darius legte den Hörer auf. Ohne es zu merken, war er langsamer geworden, nun hing ein Wagen dicht an seiner hinteren Stoßstange. Darius kreuzte zwei dichtbefahrene Fahrspuren und brachte den Wagen auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Sein Herz schlug wild, und ein stechender Schmerz machte sich in seinen Schläfen breit. Er schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken. Er atmete noch einmal tief durch, und der Schmerz in seinem Kopf ließ nach.

Die Stimme am Telefon war heiser und die Sprache unkultiviert gewesen. Der Mann wollte Geld, natürlich. Darius lächelte grimmig. Er hatte es ständig mit gierigen Männern zu tun. Die waren am einfachsten zu manipulieren. Diese Leute glaubten immer, dass die Menschen, mit denen sie Geschäfte machten, genauso dumm und ängstlich waren wie sie selbst. Doch auf eine Art war er dem Anrufer dankbar. Er war zu nachlässig geworden, hatte geglaubt, dass er nach all den Jahren in Sicherheit war, doch man war niemals sicher. Er würde diesen Weckanruf sehr ernst nehmen.

3

Captain Ned's ragte auf Pfählen gebaut über den Columbia River. Es bestand aus verwittertem Holz und Glasscheiben, auf die der Regen klatschte. In der Bar war es so dunkel, wie die Stimme es versprochen hatte. Darius setzte sich in eine Nische in Nähe der Küche, bestellte ein Bier und wartete geduldig. Ein junges Pärchen kam Arm in Arm herein. Er beachtete die beiden nicht. Auf einem Hocker an der Bar saß ein hochaufgeschossener Handlungsreisender in einem zerknitterten Anzug. An den meisten Tischen saßen Pärchen. Darius musterte die anderen Nischen. Ein massiger Mann im Trenchcoat lächelte und stand auf, nachdem Darius ihn eine Weile fixiert hatte.

»Ich wollte sehen, wie lange sie brauchen würden«, sagte der Mann, als er sich in die Nische schob. Darius blieb stumm. Der Mann zuckte mit den Schultern, und sein Lächeln verschwand. Es war unangenehm, Martin Darius gegenüber zu sitzen, selbst wenn man glaubte, alle Trümpfe in der Hand zu haben.

»Wir können die Sache wie zivilisierte Menschen oder wie Wilde angehen«, erklärte der Mann. »Mir ist das egal. Sie werden schließlich doch bezahlen.«

»Was haben Sie zu verkaufen, und was wollen Sie dafür?« entgegnete Darius und musterte dabei das breite Gesicht im düsteren Licht.

»Immer ganz der Geschäftsmann, also reden wir vom Geschäft. Ich war in Hunters Point. In den alten Zeitungen hat eine Menge gestanden. Und sogar Bilder waren darin. Ich musste schon genau hinsehen, aber es waren Sie, der da abgelichtet ist. Eins habe ich mitgebracht, wenn Sie einen Blick darauf werfen wollen«, sagte der Mann, während er seine Hand aus der Manteltasche zog und die Fotokopie einer Zeitungstitelseite über den Tisch schob. Darius sah die Kopie an und reichte sie zurück.

»Schnee von gestern, mein Freund.«

»So? Meinen Sie das wirklich? Ich habe Freunde bei der Polizei, Martin. Die Öffentlichkeit weiß es noch nicht, aber ich. Jemand hat in der Gegend von Portland kleine Zettel und schwarze Rosen verstreut. Ich glaube, es ist dieselbe Person, die das in Hunters Point gemacht hat. Was glauben Sie?«

»Ich glaube, Sie sind ziemlich gerissen, Mr...?« antwortete Darius. Er wollte Zeit gewinnen, um sich über die Konsequenzen klarzuwerden.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie brauchen nicht zu wissen, wie ich heiße, Martin. Sie bezahlen mich einfach.«

»Wie viel haben Sie sich vorgestellt?«

»Ich denke, 250.000 Dollar sind ein fairer Preis. Das ist gerade einmal so viel, wie Sie für einen Rechtsanwalt investieren müssten.«

Der Mann hatte dünnes, strohblondes Haar. Darius konnte die kahlen Stellen zwischen den Strähnen sehen. Das Nasenbein war offensichtlich irgendwann einmal gebrochen gewesen, er hatte einen Bauch, doch die Schultern waren breit und die Brust muskulös.

»Haben Sie Ihren Auftraggebern von Hunters Point erzählt?« wollte Darius wissen.

Zuerst war im Gesicht des Mannes ein kurzes Flackern der Überraschung, dann ein Grinsen, bei dem man die nikotingelben Zähne sah.

»Das war wirklich gut. Ich werde Sie nicht fragen, wie Sie darauf gekommen sind. Sagen Sie mir, was Sie vermuten?«

»Ich glaube, dass wir beide die einzigen sind, die davon wissen -bis jetzt.«

Der Mann antwortete nicht.

»Es gibt da eine Sache, die Sie wissen sollten«, erklärte Darius und beobachtete ihn genau. »Ich weiß, was Sie glauben, dass ich getan habe. Wozu ich fähig bin. Warum haben Sie keine Angst, ich könnte Sie umbringen?«

Der Mann lachte: »Sie sind ein Schlappschwanz, Martin. Genau wie die anderen Vergewaltiger, die mir hie und da über den Weg gelaufen sind. Typen, die bei Frauen den starken Mann markieren, aber sonst nichts wert sind. Wissen Sie, was ich mit solchen Typen normalerweise mache? Ich mache sie zu meinen Mädchen, Martin. Ich mache sie zu kleinen Tunten. Genau das würde ich auch mit Ihnen machen, wenn ich nicht an Ihrem Geld viel mehr interessiert wäre.«

Während Darius über dieses Bekenntnis nachdachte, sah ihn der Mann mit selbstsicherem Grinsen an.

»Ich brauche etwas Zeit, um so viel Geld lockerzumachen«, warf Darius ein. »Wie lange geben Sie mir?«

»Heute haben wir Mittwoch. Wie wär's mit Freitag?«

Darius schien über das Problem der Geldbeschaffung nachzudenken.

»Sagen wir Montag. Viel von meinem Geld ist in Immobilien angelegt. Es wird bis Freitag dauern, einen Teil davon flüssigzumachen und Aktien zu verkaufen.«

Der Mann nickte. »Mir ist bekannt, dass Sie keinen Scheiß machen. Das ist gut so. Sie packen es richtig an. Und, mein Freund, eins möchte ich klarstellen: Mich führt man nicht hinters Licht. Außerdem bin ich nicht habgierig. Das hier ist ein einmaliges Geschäft.«

Der Mann stand auf. Dann fiel ihm noch etwas ein, und er grinste Darius an.

»Wenn ich mein Geld habe, werde ich AUF EWIG VERGESSEN sein.«

Der Mann lachte über seinen Scherz, drehte sich um und verließ die Bar. Darius sah ihm nach. Er fand weder den Scherz noch irgendetwas anderes an dem Mann amüsant.

4

Heftiger Regen klatschte auf die Windschutzscheibe. Russ Miller schaltete die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Die Sturzbäche, die sich bildeten, beeinträchtigten dennoch seine Sicht, und er musste sich sehr anstrengen, um den durchbrochenen Mittelstreifen im Licht der Scheinwerfer erkennen zu können. Es war schon fast acht Uhr, aber Vicky war daran gewöhnt, spät zu essen. Man musste seine Zeit für BRAND, GATES & VALCROFT opfern, wenn man weiterkommen wollte. Russ grinste, als er sich Vickys Reaktion auf die Neuigkeiten vorstellte. Er wäre gern schneller gefahren, aber die paar Minuten Unterschied spielten jetzt auch keine Rolle mehr.

Gleich nachdem Frank Valcrofts Sekretärin ihn zu ihm bestellt hatte, hatte Russ Vicky angerufen, um ihr zu sagen, dass er wahrscheinlich nicht pünktlich zu Hause sein werde. In der Werbeagentur galt es als Ehre, in Valcrofts Privatbüro gebeten zu werden. Russ war bislang nur zweimal dort gewesen. Die dicken, weinroten Teppiche und die dunklen Möbel erinnerten ihn immer daran, was er erreichen wollte. Als Valcroft ihm mitteilte, dass er die Leitung des Darius-Construction-Etats übernehmen würde, wusste Russ, dass er ein Stück auf seinem Weg weitergekommen war.

Russ und Vicky waren Martin Darius in diesem Sommer auf einer Party, die er anlässlich der Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums gegeben hatte, vorgestellt worden. Alle, die an diesem Projekt mitgearbeitet hatten, waren eingeladen gewesen, doch Russ hatte das Gefühl gehabt, dass Darius ihn besonders aufmerksam beobachtet hatte. Die Einladung, Darius auf seiner Yacht zu besuchen, folgte eine Woche später. Seitdem waren Vicky und er zweimal zu Partys in Darius' Haus eingeladen worden.

Stuart Webb, ebenfalls Projektleiter bei BRAND, GATES & VALCROFT, behauptete, dass es ihm immer, wenn er mit Darius zusammen sei, kalt über den Rücken laufe. Doch für Russ war Darius der dynamischste Mensch, den er je kennengelernt hatte, außerdem gab er Russ das Gefühl, der wichtigste Mann auf der Welt zu sein. Russ war sicher, dass Martin Darius dafür verantwortlich war, dass man ihn zum Projektleiter des Darius-Construction-Etats gemacht hatte. Wer weiß schon, was er in Zukunft noch alles erreichen konnte, wenn er erfolgreich war. Vielleicht konnte er BRAND, GATES & VALCROFT eines Tages verlassen und für Darius selbst arbeiten.

Das Garagentor öffnete sich automatisch, als Russ die Auffahrt hinauffuhr. Das Trommeln des Regens auf das Garagendach klang äußerst bedrohlich, und Russ war froh, als er in die warme Küche kam. Ein großer Kochtopf stand auf dem Herd. Vicky kochte also Spaghetti. Russ rief nach Vicky, während er unter den Deckel eines anderen Topfes linste, um zu sehen, was für eine Sauce es gab. Der Topf war leer. Auf einem Küchenbrett lag Gemüse, das aber noch nicht zubereitet war. Russ runzelte die Stirn. Die Platte unter dem großen Topf war nicht angestellt. Er hob den Deckel. Wasser war darin, aber die Spaghetti lagen noch neben der Nudelmaschine, die er Vicky zu ihrem dritten Hochzeitstag geschenkt hatte.

»Vicky«, rief Russ noch einmal. Er löste seine Krawatte und zog das Jackett aus. Im Wohnzimmer brannte Licht. Später erklärte Russ gegenüber der Polizei, dass er deshalb nicht schon früher angerufen hatte, weil ihm alles ganz normal erschienen war. Der Fernseher lief. Der Roman von Judith Krantz, den Vicky las, lag aufgeschlagen auf dem Rand des Tisches. Vicky war offensichtlich nicht zu Hause. Er nahm an, dass sie bei einer Nachbarin war.

Als er ins Schlafzimmer kam, übersah Russ den Zettel und die Rose zunächst. Mit dem Rücken zum Bett zog er seine Sachen aus und hängte sie in den Wandschrank. Dann schlüpfte er in einen Jogginganzug und sah in der Programmzeitschrift nach, was es im Fernsehen gab. Als weitere fünfzehn Minuten ohne ein Lebenszeichen von Vicky vergangen waren, ging Russ wieder ins Schlafzimmer, um Vickys beste Freundin anzurufen, die ein paar Häuser weiter wohnte. Da erst sah er den Zettel auf dem Kopfkissen des tadellos gemachten Bettes. Eine schwarze Rose lag quer über dem blütenweißen Blatt, auf dem in gestochener Handschrift stand: AUF EWIG UNVERGESSEN.

Auf ewig unvergessen
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